Kommentar (zu Teil 2) Quelle: Staatspolitische Arbeitsgemeinschaft, Juni 1919, DNVP
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Alle AG-Teilnehmer, selbst der Antisemit vom Hammerverlag, sind sich darin einig, daß der Antisemitismus nicht
der Judenverfolgung dienen sollte, wie man annehmen könnte, sondern der Erziehung der Deutschen zum "Deutschtum".
Die protokollierten Wortbeiträge bestätigen noch mal das, was v. Bronikowski vorher schon in seiner Denkschrift
ausgeführt hat: Man will die Juden gewinnen, damit sie den Antisemitismus zwecks Umerziehung der Deutschen unters
Volk bringen. Besonders Frl. Wolff bringt es wiederholt auf den Punkt: Die Besten der Juden herausfinden, um mit
ihnen gemeinsam den jüdischen Geist zu bekämpfen. Dafür, daß das kein Widerspruch in sich sei, führt sie ihren
Großvater v. Simson an, den ersten Reichstagspräsidenten. Dieser sei jüdischer Abstammung gewesen und habe dennoch
oder gerade deshalb gegen den "jüdischen Geist" Stellung bezogen, ein Gedanke, dem sich der Versammlungsleiter
v. Hassel voll und ganz anschließen kann. Er sieht nur das Problem: wie bringen wir das, was wir hier besprochen
wird und das, was wir vorhaben unters Volk. Wie übersetzen wir das in die richtige Sprache, ohne unser eigentliches
Ziel zu verraten? Man könnte auch sagen: Wie packen wir die in weiten Teilen antisemitisch eingestellte Bevölkerung
bei ihren Vorurteilen, ohne daß sie merken, daß die Ansprache dieser Vorurteile durch die Partei sich nicht vornehmlich
gegen die Juden richtet, sondern der politischen Lenkung eben dieser Bevölkerungsschichten zu Gunsten der
Konservativen in der DNVP dient. Wie können wir den scheinbaren Widerspruch auflösen, ohne daß die hier durch
Antisemitismus angesprochenen merken, worum es in Wirklichkeit geht? Die Lösung: Erlasse und Gesetze gegen die
Ostjudeneinwanderung bzw. für deren Abschiebung. So hatte man stets ein Alibi dafür, daß man den Worten auch Taten
folgen lasse. Dieses Alibi schien besonders von Nutzen gegenüber den Völkischen inner- und außerhalb der Partei,
die besonders der Fraktionsführer im Reichstag, Graf Westarp, zwecks Absicherung einer Massenbasis für die Partei,
nicht verlieren wollte.
Um es vorweg zu nehmen: Die Rechnung der Deutschnationalen, bzw. der Preußisch-Konservativen ging so nicht auf.
Das Manöver war zu durchsichtig. Es wurde vor allem durch die Völkischen innerhalb der Partei enttarnt. Sobald
ein Großteil von ihnen außerhalb der DNVP stand (seit 1922), waren sie ständig darum bemüht, in ihren
Publikationen auf das Betrugsmanöver der Deutschnationalen hinzuweisen. Denn den Völkischen ging es ja wirklich
gegen die Juden und nicht hautsächlich gegen etwas, das man den im deutschen Volk vorhandenen "jüdischen Geist" nannte.
Parteimitglieder jüdischer Abstammung verließen die Partei. Juden kamen nicht zwecks Propagierung des Antisemitismus
in die DNVP. Jedoch half diese Agitation der DNVP solange eine verhältnismäßig starke Fraktion im Reichstag zu stellen,
solange es außerhalb keine politische Gruppierung oder Partei gab, die den Antisemitismus radikaler und "glaubhafter"
unters Volk brachte. Ob der Antisemitismus durch die DNVP-Agitation salonfähig gemacht wurde, kann man bezweifeln,
denn das war er schon lange vorher, da ja auch bereits Kaiser Wilhelm II. und viele adlige Großgrundbesitzer im
Kaiserreich sich schon entsprechend geäußert hatten. Aber diese Agitation der Konservativen und vor allem das
Dulden der schärferen Agitation durch die Völkischen unterstütze diese "Geisteshaltung" von der Oberschicht bis
hinein in die Arbeiterschaft.
Er diente aber ohne Zweifel in Verbindung mit der Dolchstoßlegende, die dem Antisemitismus noch eine zusätzliche
Schärfe verlieh, dem Abschöpfen eines großen sozialen wie politischen Unmutspotentials ("Blitzableiterfunktion")
in der Bevölkerung und bescherte der DNVP bis 1924 zunehmende Wahlerfolge. Die Fraktionsstärke erlaubte der DNVP
ab 1925 sogar in eine Bürgerblockbildung einzuwilligen und darüber die Weimarer Republik durch Besetzen wichtiger
Stellen im Staat von innenheraus zu verändern.
Bedenkt man zudem noch die Zielsetzung: Mittels Antisemitismus den Sozialstaat in seiner Entwicklung zu behindern
bzw. rückgängig zu machen - denn Antisemitismus diente ja der "Aufklärung" vor allem der Arbeiter gegenüber dem
Sozialismus und dem Bürgertum gegenüber Demokratie und Liberalismus - so hat vermutlich mancher Wähler besonders
aus dem Kleinbürgertum, aufgrund seiner antisemitisch bestimmten Wahlentscheidung, gegen seine ureigensten
Interessen gestimmt. Das "Proletariat", an das sich diese verlogene Agitation der DNVP in erster Linie richtete,
wurde jedoch bei weitem nicht in dem Maße eingefangen, wie man sich erhofft hatte. Das gelang erst später, zum
Ende der Weimarer Republik, der NSDAP. Wohin opportunistisch motivierte, antisemitische Agitation führt, konnte
man jedoch schon 1924 für kurze Zeit im Reichstag sehen, als die Völkischen, die die DNVP lange genug hofiert hatte,
6% der Wählerstimmen erhielten.
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